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1. Allgemeinverfügung des Kreisausschusses des Landkreises Marburg-Biedenkopf zur Bekämpfung des Corona-Virus

12.03.2020

Der Kreisausschuss des Landkreises Marburg-Biedenkopf hat eine Allgemeinverfügung gem. § 35 S. 2 Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz (HVwVfG), § 28 Infektionsschutzgesetz (IfSG) mit folgen-dem Wortlaut erlassen:

Allgemeinverfügung

Aufgrund § 28 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten bei Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) vom 20.07.2000 (BGBl. I S. 1045) zuletzt geändert durch Gesetz v. 10.02.2020 (BGBl. I S 148) in Verbindung mit § 5 Abs. 1 des Hessischen Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst (HGöGD) vom 28.09.2007 (GVBl. I S. 659) zuletzt geändert durch Gesetz vom 03.05.2018 (GVBl. S. 82) sowie § 35 S. 2 Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz in der Fassung vom 15.01.2010 (GVBl. I S. 18) zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.09.2018 (GVBl. S. 570)

ordnen wir ab sofort zum Schutz der Bevölkerung des Landkreises Marburg-Biedenkopf vor dem ansteckenden Erreger SARS-CoV-2 an:

  1. Öffentliche und private Veranstaltungen im Gebiet des Landkreises Marburg-Biedenkopf für die mehr als 1.000 teilnehmende Personen zu erwarten sind, sind ab sofort bis einschließlich 10.04.2020 unter­sagt. Eine Verlängerung der Frist wird vorbehalten.
  2. Diese Regelung gilt nicht für Bildungseinrichtungen wie Schulen, Universitäten und Fach­hochschulen sowie für Betreuungseinrichtungen für Kinder unter 16 Jahren.
  3. Unbeschadet der Anordnung unter Ziffer 1 dieser Verfügung wird dringend empfohlen, alle öffentlichen und privaten Veranstaltungen, die nicht unter Ziffer 1 fallen, nur durchzuführen, wenn hierfür eine zwingende Notwendigkeit besteht. Anordnungen der Gesundheitsbehörde bleiben vorbehalten.

Begründung:

Die Zuständigkeit des Kreisausschusses des Landkreises Marburg-Biedenkopf zum Erlass dieser Anordnung ergibt sich aus §§ 2 Abs. 2 Nr. 1, 5 Abs. 1 des Hessischen Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst (HGöGD).

§ 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) ermächtigen die zuständigen Behörde, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen, insbesondere Veranstaltungen oder sonstige An­sammlungen einer größeren Anzahl von Menschen zu beschränken oder zu verbieten, soweit und solange es zur Ver­hinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist, wenn Kranke, Krankheits­verdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden.

Aus nachfolgenden Gründen ergeht daher zum Schutz der Bevölkerung des Landkreises Marburg-Biedenkopf in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens diese Verfügung.

Das neuartige Coronavirus (SARS-CoV-2) breitet sich in vielen Ländern weiter aus. Auch Deutsch­land und der Landkreis Marburg-Biedenkopf sind betroffen. Eine weltweite Verbreitung des Erregers ist zu erwarten. Viele Eigenschaften dieses neuartigen Virus sind momentan noch nicht genau bekannt, zum Beispiel der Zeitraum der höchsten Ansteckungsfähigkeit (Infektiosität), die Zeitdauer, bis nach Ansteckung bei einem Infizierten Symptome erkennbar sind (Inkubationszeit), wie schwer die Krankheit verläuft oder über welchen Zeitraum Erkrankte Viren ausscheiden bzw. noch infektiös sind. Der aktuelle Wissensstand bezieht sich auf Beobachtungen in China sowie auf Rückschlüsse zu Kenntnissen, die über ähnliche Coronaviren (SARS, MERS) vorliegen. Um Wissenslücken zu schließen, werden die neuartigen Viren in verschiedenen Laboren weltweit untersucht, Krankheitsfälle und das Umfeld werden genau beobachtet, analysiert und bewertet. Die dabei erhobenen und ausgewerteten Da­ten werden auf internationaler Ebene ausgetauscht um die zur Bekämpfung notwendigen Maß­nahmen abstimmen und anpassen zu können.

Die Situation entwickelt sich derzeit sehr dynamisch. Das Robert Koch-Institut (RKI) beobachtet und analy­siert die Lage sehr genau und leitet daraus Empfehlungen für Infektionsschutzmaßnahmen ab, die an die jeweilige Situation laufend angepasst werden.

Im Landkreis Marburg-Biedenkopf sind mit Datum vom 12.03.2020 7 Personen festgestellt worden, die an COVID-19 erkrankt sind. Darüber hinaus werden mehr als 20 Personen als begründete Verdachtsfälle eingestuft und in häusliche Absonderung gegeben, da sie mit den vorgenannten Personen Kontakt hatten oder mit anderen infizierten Personen außerhalb Hessens in Kontakt standen. Eine weitaus größere Anzahl von Personen (Reiserückkehrer aus Risikogebieten) wurde unter besondere Beobachtung durch das Gesundheitsamt gestellt.

In der aktuellen Situation, in der die meisten Fälle in Deutschland vereinzelt im Zusammenhang mit einem Aufenthalt in einem Risikogebiet oder in lokalen Clustern auftreten, empfiehlt das RKI eine Ein­dämmungsstrategie (Containment). Eine aktuelle Risikobewertung des RKI für Deutschland ist unter www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html?nn=13490888 (Öffnet in einem neuen Tab) abrufbar. Die massiven Anstrengungen auf allen Ebenen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) verfolgen das Ziel, einzelne Infektionen so früh wie mög­lich zu erkennen und die weitere Ausbreitung des Virus dadurch so weit wie möglich zu verhindern.

Um das zu erreichen, müssen Infektionsketten so schnell wie möglich unterbrochen werden. Dies gelingt nur, wenn Kontaktpersonen von labordiagnostisch bestätigten Infektionsfällen möglichst lückenlos identifiziert und für 14 Tage (die maximale Dauer der Inkubationszeit) in häuslicher Qua­rantäne untergebracht werden (siehe RKI-Empfehlung zur Kontaktpersonennachverfolgung bei respiratorischen Erkrankungen durch das neuartige Coronavirus). In diesen 14 Tagen ist das Ge­sundheitsamt mit den Betroffenen täglich in Kontakt, um rasch handeln zu können, falls Symptome auftre­ten sollten. Auch wenn nicht alle Erkrankungen und Kontakte rechtzeitig identifiziert werden kön­nen, bewirken diese Anstrengungen, dass die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung so stark wie möglich verlangsamt wird. Eine Erkrankungswelle in Deutschland soll hinausgezögert und de­ren Dynamik abgeschwächt werden.

Ziel dieser Strategie ist es, Zeit zu gewinnen, um sich bestmöglich vorzubereiten und mehr über die Eigenschaften des Virus zu erfahren, Risikogruppen zu identifizieren, Schutzmaßnahmen für be­sonders gefährdete Gruppen vorzubereiten, Behandlungskapazitäten in Kliniken zu erhöhen und zu erhalten, sowie antivirale Medikamente und die Impfstoffentwicklung auszuloten. Auch soll ein Zusammentreffen mit der aktuell in Deutschland und Europa laufenden Influenzawelle soweit wie möglich vermieden werden, da dies zu einer maximalen Belastung der medizinischen Versorgungsstrukturen führen könnte.

Ansammlungen von Menschen, insbesondere größere Veranstaltungen, tragen dazu bei, das Virus schneller zu verbreiten. Daher ist aufgrund der aktuelle Lage die Untersagung gerechtfer­tigt, um der vorrangigen Gesundheitssicherheit der Bevölkerung Rechnung zu tragen.

Durch den vorherrschenden Übertragungsweg von SARS-CoV-2 (Tröpfchen) z.B. durch Husten, Niesen oder teils mild erkrankte oder auch asymptomatisch infizierte Personen kann es zu Übertra­gungen von Mensch-zu-Mensch kommen. Auch Übertragungen durch Schmierinfektionen sind beschrieben, betreffen allerdings nur einen kleinen Teil der Fälle. Übertragungen kommen im priva­ten und beruflichen Umfeld, aber auch bei größeren Veranstaltungen vor. Größere Ausbrüche wurden in Zusammenhang mit Konferenzen (Singapur), Reisegruppen, Gottesdiensten (Südkorea) oder auch Karnevalsveranstaltungen (Deutschland) beschrieben. Auf Messen, Kongressen oder größeren Veranstaltungen kann es daher zu einer Übertragung auf viele Personen kommen.

Das Hessische Ministerium für Soziales und Integration hat mit Erlass vom 12.03.2020 (ohne Aktenzeichen) die kommunalen Gesundheitsämter angewiesen, Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern (Großveranstaltungen) mit Ausnahme des Besuchs von Bildungseinrichtungen im Wege der Allgemeinverfügung unverzüglich bis zum 10.04.2020 zu verbieten. Eine Ausnahme ist aufgrund der Weisung nicht zulässig. Zur Begründung wird ausgeführt, dass bei großen Menschenansammlungen sich die Gefahr einer Virusübertragung angesichts des aktuellen Verlaufs an Infektionen mit SARS-CoV-2 grundsätzlich nicht sicher beurteilen lasse. Dafür spreche die heterogene, nicht vollständig zu überblickende Zusammensetzung und Herkunft der Teilnehmenden sowie die bei solchen Menschenansammlungen regelmäßig zu befürchtende Durchmischung und Nähe der Teilnehmenden. Darüber hinaus werde bei einer hohen Teilnehmerzahl eine vollständige und zuverlässige Erfassung der für eine etwaige Rückverfolgung der Teilnehmenden notwendigen persönlichen Daten nicht möglich sein. Regelmäßig seien auf größeren Veranstaltungen auch vulnerable Gruppen in nicht unerheblicher Zahl zu erwarten. Ebenso könne nicht sicher gewährleistet werden, dass insbesondere die notwendigen Hygieneanforderungen durchweg eingehalten werden, selbst wenn diese im Vorfeld der Veranstaltung dem Veranstalter im Wege der Auflage aufgegeben würden.

Weiterhin wird in dem Erlass klargestellt, dass der Veranstaltungsbegriff grundsätzlich weit zu fassen sei: Hierunter fallen nicht nur Sportereignisse mit einer entsprechenden Zuschauerzahl, sondern insbesondere auch Kongresse, Messen und Tagungen, Theater, Konzerte und ähnliche Festivitäten, aber auch Personal-, Betriebs-und Aktionärs- sowie Gesellschafterversammlungen. Nicht unter den Veranstaltungsbegriff fällt der Besuch von Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten sowie der Besuch von Betreuungseinrichtungen für Kinder unter 16 Jahren.

Zum Schutz der Bevölkerung des Landkreises Marburg-Biedenkopf vor dem ansteckenden Erreger ist daher die vorliegende Allgemeinverfügung nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich und aufgrund der aktuellen Situation auch angemessen. Ein milde­res Mittel, wie die getroffene Anordnung mit gleichen oder besseren Erfolgsaussichten, ist nicht gegeben. Die festgesetzte Veranstaltungsgröße ab der die Untersagung der Veranstaltung angeordnet wird, ergibt sich aus der o. g. für das Gesundheitsamt des Landkreises Marburg-Biedenkopf verbindlichen Weisung der obersten Gesundheitsbehörde.

Dies bedeutet nicht, dass bei kleineren Veranstaltungen die Durchführung für die öffentliche Ge­sundheit gefahrlos wäre. Hier trägt die Verantwortung bis auf Weiteres der jeweilige Ver­anstalter. Die Gesundheitsbehörde des Landkreises Marburg-Biedenkopf weist auf die Risiken kleinerer Veranstaltungen für die Besucher und die Veranstalter ausdrücklich hin. Demgemäß wird in Ziffer 3 dieser Verfügung dringend empfohlen, alle öffentlichen und privaten Veranstaltungen, die nicht unter Ziffer 1 fallen, nur durchzuführen, wenn hierfür eine zwingende Notwendigkeit besteht. Weitergehende Verfügungen werden bei veränderter Risiko­lage ausdrücklich vorbehalten.

Durch die Regelung in Ziffer 1. werden alle öffentlichen und privaten Veranstaltungen sowohl in geschlossenen Räumlichkeiten wie auch im Freien betroffen. Die evtl. auftretende Frage einer mög­lichen Beeinträchtigung des Versammlungsrechtes durch das hier vorrangige Infektionsschutzrecht ist im Einzelfall zu lösen.

Da durch die Verfügung - wie ausgeführt - eine schnelle Verbreitung des Virus verhindert werden muss und von der Anordnung alle Personen betroffen sind, die sich im Landkreis Marburg-Biedenkopf aufhalten, wird von einer vorherigen Anhörung gem. § 28 Abs. 2 Nr. 4 Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz abgesehen.

Rechtsbehelfsbelehrung:

Gegen diese Verfügung kann innerhalb eines Monats nach ihrer Bekanntgabe Klage bei dem Verwaltungsgericht in Gießen, Marburger Straße 4, 35390 Gießen, erhoben werden.

Hinweise:

Eine Anfechtungsklage gegen diese Anordnung hat keine aufschiebende Wirkung (§§ 28 Abs. 3, 16 Abs. 8 IfSG).

Eine Nichtbeachtung dieser sofort vollziehbaren Ver­fügung stellt eine Straftat dar, die nach § 75 Abs. 1 Nr. 1 IfSG mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden kann.

Gez.:

Kirsten Fründt, Landrätin
Marian Zachow, Erster Kreisbeigeordneter

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